Ansprache des Ortsbürgermeisters zum Volkstrauertag

Sehr geehrte Damen und Herren,

was bewegt jemanden, der eine Rede am Volkstrauertag halten möchte? Woher nimmt man sich den Stoff an diesem jährlich wiederkehrenden Tag? Ich werde inspiriert durch Zeitungsberichte, bewegende Worte und Taten von Persönlichkeiten, die sich in diesem Jahr ereignet habe.So hat mich sehr stark bewegt der Besuch unseres Bundespräsidenten Gauck im September dieses Jahres in ORADOUR in Frankreich. Von diesem Ort und den Geschehnissen hatte ich vorher nie gehört.

Was war geschehen:

Der französische Widerstand wuchs massiv, nachdem am 6. Juni 1944 die Alliierten in der Normandie landeten. Es wurden dt. Soldaten bei Angriffen der Résistance getötet, was wiederum Racheakte durch Teile einer SS-Panzer-Division auslöste. So trug es sich zu, dass am 10. Juni 1944 ca. 120 Soldaten einer Kompanie dieser Division im Dorf Oradour-sur-Glane einmarschierten, da dort Kämpfer und ein Waffenlager des franz. Widerstandes vermutet wurden. Ein Sturmbannführer namens Adolf Diekmann hatte den Befehl seines Regimentskommandeurs, 30 Geiseln vom Bürgermeister des Ortes benennen zu lassen, um diese gegen einen Freund des Kommandeurs, der kurz zuvor von der Résistance gefangen genommen worden war, auszutauschen. Dieser Sturmbannführer befahl jedoch eigenmächtig und von Rache getrieben dem Kompaniechef, den Ort niederzubrennen und ohne Ausnahme alle Bewohner zu töten. Die Dorfbewohner wurden auf dem Marktplatz zusammengetrieben und von der SS in Männer sowie Frauen und Kinder aufgeteilt. . An diesem Tag starben 642 Menschen in Oradour, von denen später nur 52 identifiziert werden konnten. Nur sechs Menschen überlebten das Massaker. 254 Frauen und 207 Kinder wurden in die Kirche getrieben. Die SS-Leute zündeten daraufhin die steinerne Kirche, deren Ruine heute noch erhalten ist, an und sprengten den Kirchturm, der in das Kirchenschiff einschlug, warfen Handgranaten und schossen wahllos in die Menge. Die 181 Männer, die zuvor in Garagen und Scheunen gebracht worden waren, wurden danach erschossen. Die Details zu lesen lässt einen den Schauer über den Rücken laufen. . Und es schockiert einen immer wieder, wenn man liest, zu was Menschen fähig sind, zu befehlen und anderen anzutun. Am 4. September diesen Jahres nun besuchte Bundespräsident Gauck zusammen mit dem franz. Präsidenten Hollande den Ort des Verbrechens als erstes deutsches Staatsoberhaupt im Rahmen eines Staatsbesuchs. Mit einer Geste der Versöhnung gedachten die beiden Präsidenten der Gräueltaten. Hand in Hand ließen sich Gauck und Hollande das Massaker schildern.

Dieses Ereignis hat mich sofort an eine Geste vom 22. September 1984 erinnert; ein Tag, an dem es in Strömen regnete; ein Tag, der in die Geschichtsbücher einging, als Mitterand und Kohl über den Gräbern von Verdun sich die Hände hielten. Verdun ist einer der blutigsten Kriegsschauplätze der Geschichte. Im I. WK fielen dort in nur einem Jahr 700.000 deutsche und französische Soldaten.
Vor dem Beinhaus, in dem die Gebeine von 150.000 mutmaßlich französischen Soldaten ruhen, standen die Kriegsveteranen Spalier. Vor ihnen der französische Staatspräsident François Mitterrand und der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl. Mitterrand wurde im Zweiten Weltkrieg in Verdun verletzt und von deutschen Soldaten gefangen genommen. Kohls Vater hatte im Ersten Weltkrieg in den Hügeln um Verdun gekämpft.

Ein anderes tieftrauriges Ereignis, das man nicht vergessen sollte, jährte sich in diesem Jahr zum 70. Mal:

Die Hinrichtung am 22. Februar 1943 von Christoph Probst, Willi Graf, Alexander Schmorell, Kurt Huber und den Geschwistern Scholl, und einige Zeit später auch Hans Leipelt, alle vereinigt in der Widerstandsbewegung der WEISSEN ROSE.

Im Juni 1942 wurden hunderte Flugblätter in Briefkästen von Ärzten, Lehrern, Juristen und Staatsbeamten verteilt. Was war dort zu lesen:

„Wer von uns ahnt das Ausmaß der Schmach, die über uns und unsere Kinder kommen wird, wenn einst der Schleier von unseren Augen gefallen ist, die grauenvollsten Verbrechen ans Tageslicht treten?“

Durch Briefe von der Ostfront und Informationen zu den abscheulichen Zuständen im Warschauer Getto wurden die Aktivisten in ihrem Tun bestärkt und es wurden weitere Flugblätter verteilt und Anti-Hitler-Parolenan Hauswände geschrieben. Bis zum schicksalhaften Tag, dem 18. Februar 1943, hatte es die GESTAPO nicht geschafft, die WEISSE ROSE aufzudecken. An diesem Tag beobachte der Hausdiener der Münchener Universität die Geschwister Hans und Sophie Scholl beim Verteilen von Flugblättern im Lichthof der Uni.

„Besser ein Ende ohne Schrecken als ein Schrecken ohne Ende“ stand als Parole auf den Zetteln.

Hans Scholls letzte Worte am 22. Februar 1943 waren, bevor er vom Fallbeil getötet wurde:

„Es lebe die Freiheit“

Der Widerstand der WEISSEN ROSE galt schon kurz nach dem II. WK als Symbol für das andere bessere Deutschland.

Heute lese ich aufmerksam und detailliert von Berichten, dass ein neuer Widerstand vorhanden ist: In Bad Nenndorf stehen Hunderte Menschen hinter dem Bürgerbündnis

„Bad Nenndorf ist bunt“.

Denn seit Jahren ist die Kurstadt leider immer wieder in den Schlagzeilen wegen diverser rechtsgerichteter Gruppierungen und Veranstaltungen. Diese Hunderte Bürgerinnen und Bürger stellen sich mit ihrem friedlichen Protest und Filmen und Vorträgen gegen diese neue rechte Gefahr.

Mein Appell an Sie alle:

Schauen Sie niemals weg, seien Sie aufmerksam und seien Sie mutig, wenn auch bei uns derartige Personen oder Gruppierungen auftauchen sollten.

Hinschauen müssen wir auch, was in unserer Neuzeit in anderen Ländern passiert, in denen Menschen durch ein Ein-Parteien-Regime in eine ungewisse Zukunft geraten, sie aus ihrer Heimat fliehen müssen, zu Hunderttausenden in Flüchtlingslagern mit großteils erbärmlichen Zuständen leben, abertausende bereits ihr Leben verloren: in Syrien

Wie geht es dort weiter? Ein Ende scheint nicht erkennbar. 5.000 Flüchtlinge sind bereits bei uns. Wie viele werden noch kommen und bei uns Schutz suchen?

Sehr geehrte Anwesende und speziell möchte ich Euch, liebe Kinder und Jugendliche, ansprechen, wir leben nun seit 68 Jahren hier in Deutschland im Frieden, dafür müssen wir jeden Tag wieder dankbar sein, aber wir dürfen nie das Elend der beiden Weltkriege vergessen; wir dürfen nie die Gräueltaten auf beiden Seiten vergessen; wir dürfen nie vergessen, dass am 9. November 1938 mit der Reichspogromnacht die systematische Verfolgung, Erniedrigung und Ermordung der Juden in Europa begann; wir dürfen nie vergessen, dass bis zum 9. November 1989 ein anderes unterdrückendes System den Menschen in Ostdeutschland ihre Freiheit geraubt hat.

Ich bitte Sie aufzustehen und mit mir der Opfer von Krieg, Vertreibung, Rassendiskriminierung, Unterdrückung und aus aktuellem der Opfer des Taifuns auf den Philippinen und deren Familien zu gedenken.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit